Holtgast/Arle - Hermann Oldewurtel ist ein Mann wie ein Bär. Groß, stark, kräftig gebaut – einer, den so leicht nichts umhaut. Sollte man meinen. Doch vor einigen Jahren änderte sich das, als seine Lebensgefährtin plötzlich krank wurde – und Oldewurtel verstand, dass die Windräder schuld sind.
Im Mai 2016 ging Insa Bock in die Reha. Sechs Wochen Bad Salzdetfurth bei Hildesheim statt Holtgast in Ostfriesland. Die 55-Jährige hatte nach eigenen Worten einen „klassischen Burnout“. Mit der einstigen Inselschwimmerin, die regelmäßig nach Langeoog und zurück schwamm und laufen ging, war nichts mehr los. Sie konnte nachts nicht mehr schlafen, hatte Herz-Kreislauf-Probleme und Wortfindungsstörungen, war ständig müde, lange krankgeschrieben und gab schließlich ihren Job als Pädagogische Mitarbeiterin an einer Schule auf. Dann kam die Reha. „Danach ging es mir blendend“, erinnert sich Insa Bock.
Immer, wenn sie nicht zu Hause schlafen musste, ging es ihr besser.
Woran das liegt? Insa Bock zeigt aus dem Fenster auf die 42 Windkraftanlagen vor ihrer Haustür. Die seien schuld. Nun zählen Bock und ihr Lebenspartner Hermann Oldewurtel nicht zu verblendeten Windkraftgegnern. „Wir sind keine ideologischen Spinner“, stellt Oldewurtel klar.
Die beiden kennen das Leben mit Windkraftanlagen in unmittelbarer Nähe seit 1995. Damals waren es sogar 51 Anlagen. „Die waren zwar kleiner, aber laut, lästig und hässlich. Doch sie haben uns nicht beeinträchtigt“, sagt Oldewurtel. Der 62-Jährige hat an der Utgaster Straße 55 im ehemaligen Haus seiner Eltern nicht nur seine Heimat, sondern auch seinen Firmensitz: Sandgruben, Wegebaustoffe, Nassbaggerei und Seevermessung steht auf seiner Visitenkarte.
Heftige Reaktionen
Mittlerweile sind die alten und lauten Windkraftanlagen des Herstellers Tacke durch neue, modernere, höhere und viel leisere Anlagen des Auricher Windanlagenbauers Enercon ersetzt worden. Das Gerät, das seinem Haus am nächsten kommt, steht in 650 Metern Entfernung. „Ich hätte nie gedacht, dass ich mal gegen Windkraftanlagen bin“, sagt Oldewurtel, der aufgrund der Probleme seiner Partnerin gemeinsam mit ihr immer öfter auswärts übernachtet hat. Mit dem Austausch der Anlagen beginnt die Odyssee. „Seit 2016 schlafen wir nicht mehr hier. Im Winter haben wir uns eine Ferienwohnung genommen, im Sommer waren wir mit dem Wohnmobil auf dem Campingplatz“, berichten die beiden.
Warum der ganze Aufwand? Das Paar spricht von Vibrationen im Haus durch „überlagerte Schwingungen und Biegungsschwingungen“. „Die Duschtür, die Matratzen, alles vibriert und macht uns krank“, sagen die beiden.
Hermann Oldewurtel erwischt es, während seine Frau zur Kur ist. In den sechs Wochen schläft der bullige Kerl nicht auf dem Campingplatz oder in einer Ferienwohnung, sondern in seinem früheren Elternhaus neben seiner Firma. „Und dann ging es auch bei mir so richtig los", erinnert Oldewurtel sich. Auch ihm fallen geläufige Wörter plötzlich nicht mehr ein, er klagt über Herzflattern und Augenflimmern, „als hätte ich drei Tage lang durchgesoffen“. Hat er aber nicht.
Symptome, die auch Sven Reschke-Luiken aus dem Nachbarort Arle (Gemeinde Großheide, Kreis Aurich) kennt. „Wusch, wusch, wusch – dieses Geräusch macht einen verrückt“, sagt der Postbote, der mit seiner Frau und seinen drei Kindern ebenfalls in Nachbarschaft zu einem Windpark wohnt.
„2014 fing der ganze Wahnsinn an“, erinnert Reschke-Luiken sich, „da wurde das ganze Dorf mit Windkraftanlagen zugeballert.“ Etwa 840 Meter weit weg steht die Anlage, die seinem Haus am nächsten ist. Und dennoch spricht der 48-Jährige von diesem Geräusch, das er „gemein“ nennt. Gemein deshalb, weil man es fühlen könne, und weil es einen ständig verfolge. Immer, wenn der Wind auf sein Haus puste, klage seine Tochter über Migräne. Daran, dass die ganze Familie schon seit Jahren nicht mehr richtig schlafen könne, habe man sich schon fast gewöhnt.
Reschke-Luiken ist auch derjenige, der auf sich aufmerksam gemacht hatte, weil er mit seiner und anderen Familien mal zum „Schlafasyl“ ins Rathaus von Arle eingezogen war – aus Protest, weil die Bürger sich von Politik und Verwaltung allein gelassen fühlen. „Wir haben uns hier unser Nest gebaut, das gibt man nicht so einfach auf“, antwortet der Familienvater auf die Frage, warum er nicht wegziehe – so, wie es laut Oldewurtel 80 Prozent seiner Nachbarn mittlerweile getan haben. „Alle haben die gleichen Probleme“, sagt seine Lebensgefährtin Insa, mit der er seit fast 30 Jahren „in wilder Ehe“ zusammenlebt.
Nicht aufgeben
Aufgeben? Das kommt für Hermann Oldewurtel nicht infrage. Mit seiner Firma im Rücken verfügt der Unternehmer über die nötigen finanziellen Mittel, um einen Rechtsstreit austragen zu können. Sein Ziel: Abschaltung der Anlagen in Holtgast.
Ein verwaltungsrechtliches Verfahren habe „nicht geklappt“, nun geht Oldewurtel vor dem Landgericht Aurich in die zivilrechtliche Auseinandersetzung. „Ich verzocke gerade meine Rente“, sagt der selbstständige Geschäftsmann, der nach eigenen Worten schon rund 50 000 Euro in Tieffrequenz- und seismische Messgeräte investiert hat. Doch das ist ihm egal. „Ich will hier wieder wohnen und ich werde mit Sicherheit nicht aufgeben.“